Nachdem sich Reini ein weiteres Mal von einem enervierenden Tag auf einer kleinen Fluchtwanderung (siehe Bericht nachstehend) erholen muss, übernimmt Fred die heutige Berichterstattung. Er ist für einmal besonders woke und nimmt unsere Gruppendynamik vorurteilsfrei und empathisch unter die Lupe.
Nachdem am Vortag das heutige Ausflugsprogramm im Detail und unwiderruflich festgelegt wurde, geschieht heute das pure Gegenteil. Anstatt Richtung Süden fahren wir Richtung Norden. Irgendjemandem ist nämlich kurzfristig eine Alternative in den Sinn gekommen. Er habe gehört, dass da oben noch eine schöne Gegend sei, welche man unbedingt noch sehen müsse, usw. usf. So weit so gut. Wir sind ja flexibel.
Wir fahren also in die neue Richtung und klappern die angeblichen Hotspots ab. Nicht ganz unerwartet entpuppen sie sich mehr oder weniger als Rohrkrepierer. «Wisoa semmar überhopt doo? Wär häatt dia Idee kaa? Do siats jo uus wi z’Schottland! Kumm mer fahrid witter!» Nach ungefähr einer Stunde kommt dann gebetsmühlenartig der Standardsatz: «Eatz wär an Kafi nöd schläacht!» Fertig mit Sightseeing. Die ganze Aufmerksamkeit konzentriert sich fortan auf die Suche nach einer geeigneten Gaststätte, was aber gar nicht so einfach ist. Mit tödlicher Sicherheit wird die nächstbeste Kaschemme angesteuert und man ist dann enttäuscht, dass man nur noch das aller letzte Croissant ergattern kann. Der Kafi ist dann meistens auch mehr als mässig.
Bemerkenswert ist auch die Symbiose zwischen Fahrer und Copilot. In der Regel sind zwei Schwerhörige und Ortsunkundige am Werk. Sind dann die Verkehrsschilder auch noch in Baskisch angeschrieben, wird’s knifflig. San Sebastian heisst zum Beispiel Donostia. Im Zweifelsfall wird nebst der Google-Tante und dem Auto-Navi auch noch die Strassenkarte zu Rate gezogen. Befinden wir uns zufällig auch noch in einem doppelten Kreisel und missachten die ortsüblichen Regeln (immer nur rechte Spur benutzen, wenn man die nächste Ausfahrt nehmen will), wird’s chaotisch und auch etwas eng im Kreisel.
Nun gut. Heute ist alles glatt gegangen.
Wir sind rund 30 km von Spanien nach Frankreich und zurückgefahren und haben das schmucke Städtchen Saint Jean-de-Luz erreicht. Hier soll sich Joseph-Maurice Ravel, der Komponist von «Bolero», aufgehalten haben oder evtl. in der Nähe geboren sein. Unser ausgewiesener Liebhaber von klassischer Musik wusste noch zu erwähnen, dass zu ebendiesem Stück am meisten Liebe gemacht wird. Wie er zu dieser erweiterten Bildung gekommen ist, wollte er uns nicht verraten.
Zudem klärten uns Wandsprayereien über eine Besonderheit des Baskenlandes auf: This is not Spain, this is not France, this is Euskadi. Das Baskische ist offenbar eine nicht-indogermanische Sprache, die keinerlei Verwandtschaft zu romanischen Sprachen wie etwa dem Französischen besitzt. Forscher haben einen Teil des Wortschatzes mit dem Kaukasischen in Verbindung gebracht. In Abwandlungen sind zahlreiche Wörter aus anderen Sprachen ins Baskische eingeflossen: lateinische, arabische, französische, spanische und gascognische. Im spanisch-französischen Baskenland gibt es eigene TV- und Radiosendungen, Internetportale, Apps und Printmedien. Baskisch wird von schätzungsweise 800'000 Menschen gesprochen.
Was sagt all dies über unsere Gruppendynamik aus? Eigentlich nicht viel. Solange unsere Chaostruppe rechtzeitig ihre kulinarischen Grundbedürfnisse stillen kann, ist sie auch für die Schliessung von anderen Bildungslücken empfänglich. Immerhin.
Nachtrag von Reini: Es war nicht der enervierende Tag, der mich auf einen kurzen Jakobsweg-Trip brachte, sondern das lange Sitzen, der volle Bauch und der bisherige Müssiggang. Raus aus dem Camper, ein kurzer Schlenker von der Strasse weg und schon ist man auf dem Camino del Norte. Buen Camino! Das kantabrische Meer zur Rechten und die dichten Wälder zur linken Seite wandere ich den Berg hinunter, dem Jakobs-Waldweg entlang und dann – so zeigt mir Komood an – links wieder hinauf zur Strasse.
Dieses "Obsi" ritzte meine Hände auf, nässte meine Schuhe und Hose und fühlte sich wie im Dschungel Malaysias an. Kurz und gut – ein enger, überwucherter, kaum begangener Bergweg, der mich dann doch noch zur Strasse führte. Wie staunte der Autofahrer, der mich aus dem Dschungel auftauchen sah. Und ich staunte zurück. Aber es hat sich gelohnt und morgen geht’s nochmals auf den Camino – und gleich vier Aposteln werden wir gen Santiago marschieren. Aber nicht mehr ins Unterholz.
Bilder:
Diese beeindruckenden geologischen Formationen, die sogenannten Flysch-Schichten, bestehen aus abwechselnden Schichten von hartem Kalkstein und weicherem Tonstein, die durch tektonische Kräfte gefaltet wurden und sich über Millionen von Jahren gebildet haben.

Die Schule von Hendaye - wo offenbar Gender ein Fremdwort ist: Buben links, Mädchen rechts - seit 100 Jahren...

Erklärungen vom heutigen Reiseleiter

Hier genossen wir ein feines Mittagsmahl - serviert von einer Kellnerin, die kein Notizbüchlein brauchte und alles richtig memorisierte und brachte...

Ste. Marie de Luz - man glaubt, irgendwo in Deutschland zu sein... Hier lebte der Bolero-Komponist und im vorletzten Jahrhunderten brachen von hier die Walfischfänger auf.

Erinnerungen an unseren R4 kommen auf...

Endlich auf dem Camino del Norte

Noch wunderbar zu gehen...

...und Self-Service Kioske mitten im Wald gibt's auch!

Fast nicht zu erkennen der Weg - aber es ist einer...

Zurück in der Zivilisation!

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